Fünf
wählten vor Abschiebung den Tod
Die Liste der Opfer bundesdeutscher Flüchtlingspolitik ist
2004 erneut gewachsen
Von Uwe Kalbe
Tod und Verletzungen bei Grenzübertritten, Selbstmorde und Suizidversuche
von Flüchtlingen aus Angst und auf der Flucht vor Abschiebungen –
erneut hat die Antirassistische Initiative Berlin ihre jährliche Bilanz
über die tödlichen Folgen deutscher Flüchtlingspolitik vorgelegt.
»Anfang September 2004, Regierungsbezirk Düsseldorf. Frau
X. und ihre fünf minderjährigen Kinder zwischen 16 und sechs
Jahren werden aus ihrer Unterkunft abgeholt und in die Demokratische Republik
Kongo abgeschoben. Der zwölfjährige Sohn erleidet dabei einen
Armbruch. Durch die Abschiebung gerät die Familie in große Not,
hat keine Unterkunft und leidet unter Hunger und unter den katastrophalen
hygienischen Verhältnissen. Frau X. und ihre Kinder, die nur deutsch
sprechen, haben in dem vom Krieg gezeichneten Land keine Chance, Arbeit
zu finden... Anfang Oktober ist die gesamte Familie an Typhus erkrankt;
die zehnjährige Tochter hat Malaria.«
Dieser Fall findet sich in der nunmehr zwölften Auflage der Dokumentation
»Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«,
mit der der Verein »Antirassistische Initiative« in Berlin
seit 1993 Fälle von Gewalt gegenüber Flüchtlingen erfasst
– staatlicher oder nichtstaatlicher. Die Dunkelziffern, darauf weist sie
selbst hin, sind dabei sehr hoch. Unaufhörlich wächst die Zahl
der zu Tode gekommenen Flüchtlinge, 161 starben seit 1993 auf dem
Weg nach Deutschland oder an seinen Grenzen, 421 erlitten Verletzungen.
Um neun Todesopfer wuchs die Liste im letzten Jahr. Fünf Menschen
töteten sich aus Angst vor drohender Abschiebung oder beim Versuch,
ihr zu fliehen und vergrößerten die Zahl der Opfer seit 1993
auf 125. 575 Menschen verletzten sich selbst oder versuchten sich zu töten,
2004 wuchs die Zahl um 56. Hand in Hand gehen staatliche Repression und
rassistische Gewalt von Personen oder Gruppen. 67 Menschen starben in den
letzten zwölf Jahren bei Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte,
700 wurden verletzt. 2004 kam dabei ein Mensch ums Leben (59 Verletzte).
Fünf Menschen starben insgesamt bei Abschiebungen, 262 erlitten Verletzungen.
Fazit der Initiative: Durch staatliche Maßnahmen kamen 323 Flüchtlinge
um Leben – durch rassistische Übergriffe oder bei Bränden in
Unterkünften 79.
Nicht immer ist die staatliche Verantwortung so offenkundig wie in
jenem Fall, da ein in die Türkei ausgelieferter Flüchtling schwer
gefoltert und zu 36 Jahren Haft verurteilt wurde. Die minimalistische Information
über diesen und andere Fälle, so erfährt man auf Nachfrage,
ist der ängstlichen Sorge von Verwandten oder Bekannten der Opfer
geschuldet, dass die Dokumentation Anhaltspunkte für weitere Verfolgungen
liefern könnte.
Während die Zahl der Menschen, die im letzten Jahr Asyl in Deutschland
erhielten, auf einen neuen Tiefststand von 960 sank (1,5 Prozent der Antragsteller),
hat die Zahl der Opfer unter den Flüchtlingen ein anhaltend hohes
Niveau. In betont sachlicher Sprache fasst die Dokumentation die Ereignisse
zusammen, die den Chronisten oft erst nach mühsamer Recherche bekannt
werden. Die Dokumentation, die von Flüchtlingsräten und Unterstützergruppen,
von Wissenschaftlern und Medien genutzt wird, ist selbst nach Auskunft
des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages die »umfassendste
und aktuellste« ihrer Art, wie Petra Pau, für die PDS im Parlament,
von diesem bestätigt wurde. Auf ihre Fragen an die Bundesregierung
zum Thema hat sie zumindest meist weniger aufwändige Antworten erhalten.
Umso besorgter werden Nutzer der Studie über die Nachricht sein, dass
die Antirassistische Initiative einer existenzbedrohenden Räumungsklage
in Berlin entgegensieht.
(ND 24.02.05) |